Thomas F. staunte nicht schlecht, als er mit seiner Frau von einem Kurzurlaub zurück kam und ihre 16-jährige Tochter zerknirscht die Tür öffnete. Was war passiert? Waren trotz „sturmfrei“ nur wenige Freunde zur Geburtstagsparty des Sprößlings gekommen?
Beim Betreten des Wohnzimmers verschlug es den Eltern die Sprache. Zwar hatte die Tochter versucht, das Gröbste zu beseitigen. Doch die Kratzer auf Möbeln und Parkett, die Wein-, Bier und Cola-Flecken auf Boden und Wänden sowie zwei zerbrochene Glasscheiben zeugten noch vom gestrigen „rauschenden Fest“. Besonders bitter traf den Vater jedoch die Plünderung des sorgsam gehüteten und über Jahre aufgebauten erlesenen Weinkellers.
Wie konnte es dazu kommen? Nun; die von der Tochter auf Facebook angekündigte Party war auf weit mehr Interesse gestoßen als vermutet. Viele Freunde brachten noch Bekannte mit, die die junge Gastgeberin kaum oder gar nicht kannte. Mit steigendem Alkoholpegel liefen einige der „Bekannten der Bekannten“ zu Höchstform auf und entdeckten in sich den Kurt Cobain oder James Hetfield. Zwar wurde die Wohnung nicht so zerlegt wie im Metallica-Videoclip zu „Whiskey in the Jar“. Doch aus dem Ruder lief die Party dennoch und war weder durch verzweifeltes Bitten einzufangen noch durch Rügen wie „Schämt Euch was".
Sanktion durch Scham und Tragik der Allmende
Wäre die Geburtstagsparty in geordneteren Bahnen verlaufen, wenn nur gute Freunde gekommen wären? Wieso plündert man nicht den Weinkeller eines guten Bekannten oder Nachbarn, dessen Hausschlüssel man für den Notfall bekommen hat? Das Stichwort heißt hier Sanktion durch Scham. Mein Ruf wäre unter Freunden oder den Nachbarn ruiniert. Ich könnte mir neue Freunde suchen oder hätte einen schweren Stand in meiner Straße.
In einer anonymen Gesellschaft, in der mich keiner kennt, funktioniert dies kaum noch. Hier kann ich auf meinen alleinigen Vorteil bedacht sein oder andere ausnutzen. Es kann mit egal sein, was „Hunz oder Kunz“ von mir halten. Im erweiterten Kontext und vor allem mit Bezug auf knappe Ressourcen kennt man dieses Phänomen auch alsTragik der Allmende. Wir alle wissen, dass die Menschheit derzeit zu viele Ressourcen der Erde verbrauchen. Aber oft ist es günstiger oder vorteilhafter, so fortzufahren und überhaupt … die anderen machen es ja auch so. Überall dort, wo der Nutzen beim Einzelnen anfällt, die Kosten oder der Schaden jedoch bei der Allgemeinheit (d.h. einer unüberschaubaren Gruppe), stoßen wir auf die Allmende-Tragik. In kleineren Gruppen hingegen kann die Sanktion durch Scham gegensteuern.
Ehrenstrafen
Dies erklärt auch, weshalb im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Ehrenstrafen so wirkungsvolle und weit verbreitete Sanktionen waren. Die Gesellschaften waren vergleichsweise klein, selbst so bedeutende Reichsstädte wie Rothenburg ob der Tauber hatten weit weniger als 10.000 Einwohner. Man kannte sich und war – mangels anonymer sozialer Sicherungssysteme – aufeinander angewiesen. Wurde man von seinen Mitmenschen gemieden und war der Ruf ruiniert … dann lebte es sich nicht etwa ungeniert. Vielmehr konnte ein ruinierte Ruf schnell den wirtschaftlichen und sozialen Ruin nach sich ziehen. Der Handwerker bekam keine Aufträge mehr, dem Wirt blieben die Gäste aus. Nicht selten war es dann besser, für eine Zeitlang sein Glück in der Ferne zu suchen, oder mit einer Charmeoffensive die Gunst seiner Mitbürger zurückzugewinnen.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die vielen, heute noch erhaltenen Ehrenstrafvollzugsgeräte, wie sie etwa im Mittelalterlichen Kriminalmuseum in Rothenburg o.d.T. zu finden sind, nicht mehr nur schlicht „skurril“ oder „albern“.
Ihnen kam eine gewichtige Bedeutung im Rechtsleben der Menschen zu. Dabei dienten die vielen bizarren Überzeichnungen in den Masken, etwa überdimensionale Zungen, Ohren, Augen, Schweinerüssel oder Hahnenkämme neben der puren Belustigung auch der Überhöhung und Darstellung der Übertretung, ob derer eine Person zum Tragen der Maske verurteilt wurde: etwa übles Nachreden (Zunge), Verletzung der Privatsphäre anderer (Ohren, Nase), unmoralischer oder unhygienischer Lebenswandel (Schweinerüssel) oder Übertretung der Kleiderordnung (Hahnenkamm). Darüber hinaus kamen Trinkertonnen für notorische Wirtshaushocker ebenso zum Einsatz wie Halsgeigen für Frauen oder Doppelhalsgeigen für streitende Ehepaare. Für die Obrigkeiten waren die Ehrenstrafen attraktiv, da die Strafe letztlich durch die Gemeinschaft – durch alle Mitbürger – vollzogen wurde und sich so kaum der Volkszorn gegen den Stadt-, oder Landesherren wenden konnte, wie etwa gelegentlich bei der Vollstreckung von Leibes- oder Lebensstrafen.
So schlimm das Tragen einer Schandmaske oder Trinkertonne für die Verurteilten auch war. Die Ehrbeeinträchtigung war nur zeitweiliger Natur. Irgendwann übertrieb es ein anderer mit dem Lästern oder Zechen. Dann wurde der Nächste „auf der Sau durchs Dorf getrieben“ und die Untaten früherer Übeltäter gerieten langsam in Vergessenheit.